Weihnachtsgeschichten am Kamin 02 by Richter Ursula & Stubel Wolf-Dieter

Weihnachtsgeschichten am Kamin 02 by Richter Ursula & Stubel Wolf-Dieter

Autor:Richter, Ursula & Stubel,Wolf-Dieter [Richter, Ursula; Stubel,Wolf-Dieter]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-19T05:00:00+00:00


Anonym

«Weihnachtsgeschichte eines Landstreichers»

oder

«Heiligabend ist da, und ich gehöre nicht dazu!»

Dies ist mir in all den Jahren noch nicht vorgekommen. Heiligabend ist da, und ich habe heute nacht kein Bett.

Mein Rucksack ist im Gepäckschließfach des Bahnhofs. Am Morgen des Heiligen Abends bummle ich ohne die 25 Kilo auf dem Rücken durch die noch hektisch pulsierende Stadt. Die Leute machen ihre letzten Einkäufe vor der großen Ruhe. Bei mir ist schon Ruhe eingetreten: Mit reichlich zusammengebetteltem Geld in der Tasche versuche ich, diese Ruhe zu genießen. Mein (Weihnachtsgeschäft) ist erledigt. Die Fahrkarte, diesmal außergewöhnlich weit, gut 100 km weit in die nächste Großstadt, habe ich schon vorhin besorgt. Doch ich will jetzt noch nicht fahren, ich habe Zeit, viel Zeit. <Mein> Zug fährt erst um halb vier am Nachmittag, jetzt ist es neun Uhr am Vormittag. Diesen Tag will ich erleben: Keine Kameraden von der Straße sehen, heute nicht! Und bloß nicht heute abend in eine Herberge gehen, heute nicht! Ich will keine helfenden Menschen sehen, triefendes Mitleid spüren, heute nicht! Ich will keine weihnachtliche Liebe spüren, wo sie doch sonst auch nicht da ist, heute nicht... Ich spreche keine Leute an wegen einer <milden Gabe>; auf der Straße nicht, an den Haustüren nicht, in den Geschäften nicht, obwohl sicher einiges zu <holen> wäre.

Es wird Mittag, die Stadt wird leerer, die Atmosphäre langsam unheimlich. In einem Schnellrestaurant gehe ich Mittag essen; ich habe soviel Geld, daß ich mir das Essen heute nicht erbettle. Bis zum Zug habe ich immer noch Zeit; im Südpark mit dem Tropengewächshaus und dem Ziegengehege gehe ich spazieren. Schön wäre es, wenn hier und jetzt Schnee liegen würde, die weihnachtliche Idylle wäre vollkommen.

Kurz nach drei Uhr bin ich am Bahnhof, den Rucksack hole ich mir aus dem Schließfach; oh, wie wohl ist mir zumut, wenn ich mein komplettes Gepäck bei mir habe und die Reise losgeht. Auf dem Bahnsteig ist es ruhig, viele Reisende sind hier nicht mehr. Der Zug kommt, ich steige ein, der Zug fährt an.

Mit zunehmender Geschwindigkeit verläßt er die Stadt. Die Fahrt verläuft ruhig: Aus dem Fenster sehe ich den Rhein, spüre förmlich die Ruhe in den Dörfern, in den Weinbergen, auf den Straßen und Wegen, auf dem Strom; durch die Waggonwand spüre ich den Heiligen Abend. Das Fahrgeräusch nehme ich auf wie ein Rauschgift: was fiir ein Weihnachtsnachmittag! Knapp eine Stunde fährt der Zug ohne Zwischenhalt. Diese Reise ist mein Weihnachtsgeschenk an mich. Gegen halb fünf am Abend ist die Dämmerung weit fortgeschritten; ich steige aus dem Zug. Die 20 Kilometer zur nächsten gescheiten Herberge fahre ich erst morgen mittag. Unschlüssig stehe ich in der Bahnhofshalle. Mein schweres Gepäck fällt auf. Der Rucksack geht also wieder ins Schließfach, nur die Rolle mit dem Schlafsack und einige Lebensmittel nehme ich mit auf den Weg. Zum Rhein laufe ich durch die Innenstadt; fast verloren gehen einige späte Spaziergänger an den Schaufenstern der Geschäfte vorbei. Und ich auch. Doch ich gehöre nicht dazu, Heiligabend ist da, und ich gehöre nicht dazu. Abwesend verdränge ich den Gedanken, lasse nur diese eigenartige Ruhe auf mich einwirken, dann gehe ich zum Fluß.



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